Kanaren zu Fuß

Ein Auftakt

26. September 2013 - Andre Schumacher
0

Die erste große Reise machte ich mit 16. Der Mauerfall lag zwei Jahre zurück und ich mit zwei Freunden im klaren Wasser eines eiskalten Fjords. Wir waren in Norwegen – drei klapprige Fahrräder an unserer Seite, Regenponchos und fünf Gläser Mandelmus im Gepäck. Man kann sagen, es war der erste Blick hinter einen Vorhang, der unsere Kindheit vor dem Fernweh bewahrte.

Als unsere Lehrerin zwei Jahre zuvor das Klassenzimmer betrat, sich räusperte und mit einer aufgeregten Mischung aus Freude und Perspektivlosigkeit den Fall der Berliner Mauer bekanntgab, nahm ich ein Stück Papier zur Hand, faltete es dürftig und schob es unter der Schulbank von Nachbar zu Nachbar bis zu Burkhard. Auf dem Zettel stand nur ein Wort: Norwegen. Für zwei Burschen, die bis dahin lediglich die schüchternen Dünen der Ostsee gesehen hatten, waren die unverschämten Weiten des Nordens wie ein Versprechen. Von Abenteuer, von Freiheit und davon, dass Träume nie ausgehen.André Schumacher erzählt - Reiseshows mit Gänsehaut – Norwegen
Mitte der 90'er Jahre begann ich in Potsdam Architektur zu studieren, doch die eine Hälfte von mir weilte längst in fernen Ländern, während die andere im Hörsaal darauf wartete, folgen zu dürfen. Kaum hatte ich mein Diplom, fuhr ich los – und kam doch bloß bis Spanien. Drei Jahre arbeitete ich als Architekt auf den Kanarischen Inseln. Es war eine wunderbare Zeit: den Atlantik vor der Haustür, einen 4.000 Meter hohen Berg im Rücken, Meeresfrüchte, schwerer Wein, und wir gewannen einen Wettbewerb nach dem anderen.

2003 traf ich meinen alten Schulfreund Burkhard wieder. In seiner Wohnung hingen zwei Plakate – zu unserer Linken ein großformatiger Frauenakt, rechts eine Weltkarte. Wir starrten den ganzen Abend an die Wand, gossen uns dabei einen Schwarztee nach dem anderen auf und etwa gegen Mitternacht geschah es: Die zwei Plakate wurden für uns die zwei Themen des Lebens, das Gewisse und das Ungewisse. Warum nur war ich so lange in Spanien geblieben? Wollte ich denn nicht eigentlich hinaus in die Welt? Alles kennenlernen, alles in Frage stellen, mich auf eine Reise begeben, von der ich weder wusste, wohin sie führen noch wie lange sie dauern würde?André Schumacher erzählt - Reiseshows mit Gänsehaut – Südamerika
Diesmal nahmen wir uns mehr vor als Norwegen. Von Patagonien nach Alaska, von Pol zu Pol, und das alles mit dem Rad! Unterwegs merkten wir indes bald, dass Bewegung nicht darin besteht, möglichst zügig am Zielort anzukommen, sondern im Gegenteil, sich den Reibungen des Weges auszusetzen. Bürgerkrieg, Schneestürme, Liebeswirren. Löcher in den Reifen. Nach mehr als zwei Jahren hatten wir gerade einmal die Karibik erreicht. Burkhard zog es zurück in die Heimat. Ich aber fuhr weiter, immer weiter.

In meinem neuen Leben war ich nun Fotograf, Reisejournalist und Abenteurer. Afrika, Asien, Südamerika, Antarktis – überall war ich unterwegs. Heimatlos. Rauschhaft. Nach 10 Jahren auf der Überholspur fühlte ich mich wie ein Geschäftsreisender, der die stetig wechselnde Landschaft nur noch verschwommen am Fenster vorbeiziehen sieht. Vielleicht wuchs deshalb in mir der Wunsch, an jenen Ort zurückzukehren, an dem ich das letzte Mal sesshaft war: die Kanaren.André Schumacher erzählt - Reiseshows mit Gänsehaut – Kanaren
Wie würde es dort wohl jetzt aussehen? Ob die Inseln noch zu erkennen waren unter Estrich und Beton? Ob Mundo und seine Freunde immer noch jeden Abend um ihr Leben spielten? 80, 90 Jahre alt mögen sie mittlerweile sein. Und kann man wohl am Strand von Las Teresitas noch immer zwischen phosphoreszierenden Algen schwimmen, während über einem am Nachthimmel die Plejaden funkeln?

Ich muss noch einmal zurück zu »meinen« Inseln! Ganz langsam, am besten zu Fuß. Nur die Kanaren und ich – ohne Auto, ohne Bus, ohne Fahrrad. Ich werde den Archipel durchschreiten, von Ost nach West, von Lanzarote bis nach El Hierro, dem Ende Europas.