Rettet die Bilder!

Der schleichende Verlust

30. April 2019 - Martin Breutmann
KULTURGUT FOTOGRAFIE. Der Verlust kommt schleichend. Oder auch abrupt. Ob ausgeblichene Bilder oder defekte Speichermedien – Fotografien sind ein bedrohtes Kulturgut. In einer großen Serie geht die Zeitschrift fotoforum der Frage nach, wie sich analoge und digitale Bilder besser schützen lassen.


Der Schreck steht Steffen Werning (Name von der Redaktion geändert) ins Gesicht geschrieben: Gerade hat er es sich am Küchentisch gemütlich gemacht, um die Bilder von der Mexikoreise für das Fotobuch herauszusuchen. Das will er seiner Freundin in drei Wochen schenken. Das Stromkabel spannt ein wenig. Zur Entlastung zieht er die Steckerleiste etwas näher heran. In der Rückwärtsbewegung passiert es. Mit dem Ärmel seines Pullovers touchiert er hauchdünn den Latte macchiato. Das Glas kippt, der Inhalt ergießt sich über den Laptop. Das Abendprogramm endet abrupt. Für den Rechner war’s das wohl. Elektroschrott.

Für Sylvia Börger (Name von der Redaktion geändert) fängt der Tag nicht gut an. Der Computer will nicht starten, das System bleibt stumm. Die Fotografin ist im Umgang mit dem Computer versiert, bleibt ruhig und holt sich erstmal einen Kaffee. Dann startet sie die Backupsoftware, die täglich ihre Daten auf eine externe Festplatte sichert. 

Spricht man mit Fotografen, so hat fast jeder Geschichten von Bildverlusten zu erzählen. Auch jene, die analog fotografieren, kennen das. Bei den einen sind es geöffnete Kamerarückwände, verlorene Filme, Schimmel oder verblichene Dias. Bei den anderen machen defekte Speicherkarten, versehentlich gelöschte Daten oder ein Wasserschaden die digitalen Erinnerungen zunichte.

Materielle und ideelle Verluste
Der Verlust von Bildern bedeutet fast immer, ganz gleich ob analog oder digital, auch den Verlust von materiellen oder ideellen Werten. Wer beruflich mit Fotos arbeitet, wird im Schadensfall Gewinneinbußen beklagen. Künstlern nimmt ein Bildverlust einen Teil ihres Lebenswerks. Wer privat fotografiert, verliert unwiderbringliche Erinnerungen.

Spricht man mit Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, dann fällt beim Rückblick immer wieder auf, dass, oft noch vor den materiell wertvollen Dingen, vor allem eins gerettet wurde: Fotos. Manchmal sogar unter Lebensgefahr oder unter Verzicht auf lebenswichtige Dinge. Menschen, die ihre Erinnerungen in Form von Bildern verloren haben, tragen oft ein Leben lang daran. Denen, die heute unter Krieg leiden müssen, geht es prinzipiell nicht anders. Sie bewahren ihre Bilder vielfach auf Smartphones und in der Cloud auf. Fotografien sind ein wesentlicher Baustein unserer Erinnerungskultur.

Das Bewahren von Bildern ist Kulturtechnik
Als der Franzose Joseph Nicéphore Niépce, Er­finder der weltweit ersten fotografischen Technik, der Heliografie, 1826 die vermutlich erste lichtbeständige Fotografie der Welt aufnimmt, ahnt er vielleicht nicht, dass wir seinen Blick aus dem Arbeitszimmer von Le Gras heute, fast 200 Jahre später, immer noch sehen können. Das Original befindet sich in der Gernsheim Collection an der University of Texas (USA).

Während der gesamten großen Epoche der analogen Fotografie haben wir gelernt und verinnerlicht, wie Fotos aufzubewahren sind. Abzüge in Alben, Schuhkartons und Zigarrenkisten gehören zweifelsfrei zu diesen tradierten konservatorischen Basistechniken. Nicht immer ganz schick, meist weit von der Perfektion entfernt, aber tausend-, ja: millionenfach bewährt. 

Im Digitalzeitalter machen sich nun weltweit Experten Gedanken darüber, wie die immensen und immer schneller wachsenden Datenbestände gesichert werden können. Digitale Bilder werden in verschiedenen Formen wieder auf Film belichtet, um diese dann in Bunkern und Bergwerksstollen für die nächsten Generationen einzulagern – wohlgemerkt nicht digital, sondern analog. Weil sie physisch, aber auch technologisch haltbarer sind. Denn wer weiß schon, welche Technologien uns in Zukunft zur Verfügung stehen werden?

Als Anfang der 1990er-Jahre die Compact Disc Recordable (CD-R) auf den Markt kam, schien vielen Anwendern die Frage nach der perfekten Archivierung ein für allemal gelöst. Viele digitalisierten ihre Dias und wähnten sich sicher, mit der CD-R nun das ultimative Speichermedium für alle Zeiten gefunden zu haben. Ganze Analogarchive wurden digitalsiert, Dias und Negative wanderten in den Müll, Firmen lösten ihre analogen Bildbestände auf – es war ja jetzt alles auf CD-R gespeichert, digital und modern. Das böse Erwachen kam einige Jahre später, als man feststellte, dass die ersten CDs nicht mehr lesbar waren. Außerdem hatte man die schnelle Entwicklung der Technik unterschätzt. Für viele Speichermedien der digitalen Frühzeit gibt es heute keine Laufwerke mehr. Wer nutzt heute noch Disketten, SyQuest-Platten mit 44 MB oder SCSI-Anschlüsse? Der Fortschritt steht nicht still. Und so verdrängt unser Datenhunger die bisherigen Techniken mit rasender Geschwindigkeit. Auf der Strecke bleiben die Bilder. Da erscheint es fast absehbar, dass Berufe wie der eines Datenrestaurators Konjunktor haben werden. Auch Historiker werden, wenn sie die Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts untersuchen, mit Daten arbeiten müssen – wenn sie denn verfügbar sind. Das 21. Jahrhundert dürfte, medial betrachtet, bereits in Auflösung begriffen sein. Viele Menschen speichern ihre Handyfotos heute nicht einmal mehr ab. Diese Art der Fotografie ist nicht mehr auf eine Gegenwart gerichtet, die in der Zukunft Vergangenheit sein wird, sondern nur noch Kommunikation, allein bestimmt für den Augenblick. Gleichzeitig erlebt die analoge Fotografie eine zarte Renaissance, digitale Fine-Art-Techniken boomen.

Manchmal gelingt die Datenrettung
Steffen Werning hat schnell reagiert. Seinen Laptop hat er sofort ausgeschaltet, ihn umgedreht, sodass die klebrige Mischung aus Kaffee und Milch zum großen Teil wieder herauslaufen konnte. Den Rechner konnte sein Computerspezialist zwar nicht mehr retten, die Daten hingegen schon. Er baute die Festplatte aus und übertrug die Daten auf ein neues Medium. Seitdem sind auch für Steffen Werning Backups selbstverständlich.

Für Sylvia Börger kam die böse Überraschung später. Sie hatte sich auf das Backup verlassen und war schockiert, als sie feststellen musste, dass das Backup sie zwar in Sicherheit gewogen hatte, die Datensicherung aber wegen eines Konfigurationsfehlers versagt hatte. Überprüft hatte sie das nie. Der Schaden durch die verlorene Arbeit war erheblich.

Rettet die Bilder!
Die neue fotoforum-Serie Rettet die Bilder! gibt Informationen und Impulse für einen bewussteren Umgang mit dem Kulturgut Fotografie.  Mit konkreten Hinweisen, Beispielen und Anleitungen wollen wir dazu beitragen, analoge und digitale Bilder im eigenen Umfeld besser zu schützen und damit Erinnerungen und Werte auch für nachfolgende Generationen erlebbar und erfahrbar zu machen.

Dieser Beitrag ist zum Auftakt der zehnteiligen Serie „Rettet die Bilder!" in fotoforum 1/2019 erschienen.

Folgende Themen sind in der Serie bereits erschienen oder sind geplant:

Teil   1 – fotoforum 1/2019  Rettet die Bilder!
Teil   2 – fotoforum 2/2019  Analoge Schätze bewahren
Teil   3 – fotoforum 3/2019  Umgang mit digitalen Daten
Teil   4 – fotoforum 4/2019  Sichere Daten unterwegs
Teil   5 – fotoforum 5/2019  Strategien fürs Backup
Teil   6 – fotoforum 6/2019  Das analoge Bildarchiv
Teil   7 – fotoforum 1/2020  Das digitale Bildarchiv
Teil   8 – fotoforum 2/2020  Bilddaten verwalten
Teil   9 – fotoforum 3/2020  Daten im Notfall retten
Teil 10 – fotoforum 4/2020  Abschluss, Fazit, Ausblick

Begleitend zur Serie „Rettet die Bilder!" gibt es ein Online-Forum in der fotoforum Community für Fragen rund um das Thema „Kulturgut Fotografie":
https://www.fotoforum.de/community/forum

Wer eigene historische Bildschätze zeigen und sich über die digitale Restauration seiner Fotos austauschen möchte, findet hier die Bildergalerie „Rettet die Bilder!":
https://www.fotoforum.de/community/bildergalerie/rettet-die-bilder